Das Handwerk ist attraktiv wie kein anderer Wirtschaftszweig

Zu Hause in Neuruppin

Das Handwerk ist attraktiv wie kein anderer Wirtschaftszweig

Interview mit Ines Weitermann, Pressesprecherin der Handwerkskammer Potsdam: In rund 130 Berufen kann sich jeder nach seinen Talenten, Fähigkeiten und Fertigkeiten entfalten.

Das Baugewerbe bedarf der Unterstützung der Politik.

22.04.2024

Welche Gewerke bereiten Sorgen in der Region? Was wird dort getan, um die Situation zu bessern?

Aktuelle Sorgen bereitet natürlich das Baugewerbe, die Situation, dass sich die Lage bessert, kann nur durch die richtigen Weichenstellungen in der Bundespolitik gelegt werden, die Bauwirtschaft wieder anzukurbeln. Anderenfalls werden wir Betriebe der Bauwirtschaft verlieren, gleichzeitig aber die hochgesteckten Ziele der Klimawende und Wohnraumschaffung nicht erreichen können! Darüber hinaus kämpft das Handwerk gewerkeübergreifend mit übermäßiger Bürokratie, auch Neuruppiner Betriebe stehen unter enormem Druck. Handwerker verlieren mehr und mehr wertvolle Zeit am Schreibtisch, die sie viel effektiver in der Werkstatt für ihre eigentliche Arbeit nutzen könnten. Diese administrative Last führt zu einer Beeinträchtigung unserer Wettbewerbsfähigkeit, behindert Innovation und treibt die Kosten auch für den Verbraucher in die Höhe. Wir fordern deshalb seit Langem immer wieder eine dringende Vereinfachung der administrativen Prozesse, eine kritische Überprüfung der Gesetzeslage mit dem Ziel der Reduzierung und eine Politik, die die spezifischen Bedürfnisse und Herausforderungen kleiner und mittelständischer Handwerksbetriebe berücksichtigt. Die Folgen der derzeitigen Bürokratie sind nicht nur ein enormer Zeitverlust und finanzielle Belastungen, sondern auch eine Hemmung der Innovationsfähigkeit unserer Branche. Es geht zu Lasten der Ausbildung und Fachkräftesicherung. Es ist höchste Zeit, dass die Politik den Bürokratieabbau ernsthaft vorantreibt und unseren Handwerkern ermöglicht, sich wieder auf das zu konzentrieren, was sie am besten können: handwerkliche Qualität und Innovation, die das Fundament unserer Wirtschaft bilden.

Wo würde das Neuruppiner Handwerk Standortvorteile sehen? Wie ist die Beschäftigungssituation? Gibt es genügend Fachkräfte?

Die Beschäftigungssituation ist, wie in anderen Bereichen, von zwei Aufgaben gekennzeichnet: Auszubildende zu finden und Nachfolgende für diejenigen Unternehmer und Beschäftigte, die in den kommenden Jahren in Rente gehen. Daraus beantwortet sich die Frage, dass es auch in Neuruppin natürlich aktuell nicht ausreichend Fach- und Arbeitskräfte gibt. Um ausreichend Beschäftigte in den kommenden Jahren für das Handwerk zu gewinnen, brauchen wir eine wirkliche Willkommenskultur, um Zuwanderung zu ermöglichen Hass und Hetze stehen dem entgegen! Denn ohne ausländische Fach- und Arbeitskräfte wird sich das Problem noch mehr verschärfen. Schon heute haben wir auf unseren Baustellen rund 40 Prozent ausländische Beschäftigte. Stellen Sie sich vor, diese fallen auch noch weg... Das Handwerk ist seit jeher der größte Ausbilder im Land, auch bei Zugewanderten.

Wie ist die Situation beim beruflichen Nachwuchs? Gibt es bei einigen Gewerken (zum Beispiel Fleischer) Nachwuchssorgen?

Lassen Sie uns die Frage umdrehen und beantworten: Was muss getan werden, um genügend Schulabgänger zu finden? Die Zahl der Schulabgänger ist begrenzt, um sie wirbt eine ganze Gesellschaft. Noch immer gehen viel zu viele Schulabgänger ins Studium, ohne wirklich zu wissen, was sie mit dem Abschluss anstellen wollen oder können. Deshalb brauchen wir zuvörderst einen echten Bildungswandel im Land. Das Reden darüber, dass berufliche Bildung und akademische Bildung gleichgestellt sind, muss gelebt werden: ideell und materiell! Es braucht die gleichwertige Behandlung beider. Die Gleichwertigkeit muss gesetzlich verankert werden. Es braucht Wertschätzung für die duale Ausbildung. Es braucht Kommunikation, welche Wege man auch erfolgreich ohne Abitur gehen kann, welche Karrieren für Hoch- und Fachschulabsolventen drin sind, vor dem Hintergrund der vielen Fach- und Führungskräfte, die wir in den kommenden Jahren benötigen. Jahrelang wurde der akademische Weg als der bessere Weg betont, leider haben hier auch die Medien keine positive Rolle gespielt. Wir haben zu viele Theoretiker ausgebildet und unsere eigene Daseinsvorsorge durch die Vermittlung von praktischem Wissen vernachlässigt. Mehr als 50 Prozent der jungen Menschen streben ins Abitur. Besonders in Akademikerhaushalten ist die Durchlässigkeit in eine Ausbildung für die Kinder schwerer. Unsere langjährige Forderung an die Politik beginnt auch gerade deshalb bereits bei der frühzeitigen Berufsorientierung: Sie gehört unserer Meinung nach verpflichtend in allen Schulformen. Schulpraktika sind erfolgversprechend, denn hieraus entstehen die meisten Ausbildung, Betriebe und Schüler können sich kennen lernen. Aber: Es braucht auch die Entlastung der Ausbildungsbetriebe. Berufliche und akademische Bildung müssen gleichwertig behandelt werden. Ein Student ist familienversichert während seines Studiums, der Auszubildende und der Ausbildungsbetrieb werden hingegen mit Sozialversicherungsbeiträgen belastet. Das ist nicht fair. Darüber hinaus müssen die Berufsbildungsstätten gestärkt werden, dazu gehört die gleichwertige Finanzierung der Bildungsbereiche, der Ausbau von Angeboten für Azubiwohnen, der Ausbau des Aufstiegs-BAföG, um einige Punkte zu nennen. Zudem braucht es mit Blick auf das Flächenland einen so ausgebauten ÖPNV, der es ermöglicht, dass Beschäftigte und Auszubildende Ausbildung, Arbeit oder Weiterbildung erreichen. Gerade für die Fachkräftesituation auf dem Land wird dies ein immer größer werdendes Problem – auch mit Blick auf Nachhaltigkeitsaspekte.

Ines Weitermann, HWK Potsdam. Foto: Xing
Ines Weitermann, HWK Potsdam. Foto: Xing

Welche Impulse kommen von der Politik für das Handwerk?

Die brandenburgische Politik unterstützt das Handwerk u.a. mit der Meistergründungsprämie, Förderprogrammen für Digitalisierung (BIG-Digital) oder Energiesparmaßnahmen (Brandenburger Energiepaket läuft noch bis 30.6.), Projekten zur Begleitung von Unternehmensnachfolgen, Bürgschaften und Beteiligungen, Unterstützung für Weiterbildung… Sie finden alle brandenburgischen Maßnahmen für Handwerksunternehmen auch im Fördernavigator des Landes Brandenburg:
https://www.foerdernavigator-brandenburg.de/de

Beeinträchtigt die gesamtwirtschaftliche Situation wie zum Beispiel steigende Material- und Energiepreise die Lage des Handwerks?

Die hohen Energiekosten sind nach wie vor ein Problem für unsere Betriebe mit Blick auf insbesondere für solche, die energieintensive Prozesse durchführen oder auf energieintensive Ausrüstung angewiesen sind. Das führt zu einer Wettbewerbsverzerrung, wenn Handwerksbetriebe in Branchen, in denen Energie einen signifikanten Anteil der Gesamtkosten ausmacht, gegenüber Wettbewerbern aus Regionen mit niedrigeren Energiekosten benachteiligt sind. Dies kann zu einem Verlust von Marktanteilen und einer Abwanderung von Unternehmen führen. Hohe Energiekosten beeinflussen die Investitionsentscheidungen von Handwerksbetrieben, sie zögern zu investieren, wenn die langfristigen Betriebskosten aufgrund hoher Energiepreise unklar oder nicht abschätzbar sind. Mit Blick auf die steigenden Lohnnebenkosten, die inzwischen ein wesentliches Hemmnis für die Entwicklung unserer Betriebe ist, stellen Handwerksbetriebe weniger Personal ein. Mit Blick auf die schwache Konjunktur laufen Handwerksbetriebe aktuell auch Gefahr, Personal abzubauen, um Kosten zu senken. Dies kann zu Arbeitsplatzverlusten und sozialen Belastungen in der betroffenen Region führen.

Welche Veränderungen gehen im Handwerk derzeit vor? Tauchen neue Handwerksberufe auf? Durch welche Entwicklungen könnte das Handwerk noch attraktiver werden? Welche Rolle spielen zum Beispiel neue Arbeitszeitmodelle? Gibt es das auch schon in Neuruppin?

Die Digitalisierung und Technologisierung haben einen starken Einfluss auf das Handwerk. Neue Technologien wie 3D-Druck, Robotik, KI-gesteuerte Systeme und IoT (Internet der Dinge) verändern die Arbeitsweise und Anforderungen vieler Handwerksberufe. Dies führt dazu, dass sich Berufe verändern und neue Fähigkeiten erforderlich werden, z. B. Kenntnisse in der Programmierung, Datenanalyse oder Bedienung von High-Tech-Maschinen. Ein zunehmendes Bewusstsein für Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen führt dazu, dass viele Handwerksbetriebe ihre Arbeitsweisen und Materialien überdenken. Es entstehen neue Berufsfelder im Bereich der erneuerbaren Energien, Energieeffizienzberatung, ökologischen Bauweisen und Recycling. Dies erfordert oft spezifische Kenntnisse und Qualifikationen in diesen Bereichen. Die gesamte Klimawende ist ohne das Handwerk nicht realisierbar, das trifft natürlich auch auf Neuruppin zu. Das Handwerk ist so attraktiv wie kein anderer wirtschaftlicher Zweig: Rund 130 Berufe ermöglichen, dass sich jeder, entsprechend seiner Talente, Fertigkeiten und Fähigkeiten, entfalten kann. Das Handwerk ist seit jeher familiär geprägt. Man ist nicht irgendeine Nummer, sondern Teil der Handwerkerfamilie. Mit einer Ausbildung im Handwerk legt man den Grundstein für die eigene Zukunft, die man mit erfolgreichem Abschluss und einem krisenfesten Arbeitsplatz gestalten kann. Wenn einem das, was man tut, Spaß macht und Freude bringt, man merkt, dass man aktiv gestalten und wirklich etwas bewirken kann, auch für die Gesellschaft, ist das so unbezahlbar. Das ist die Basis für alles, auch für die Lösung des Fachkräfteproblems.

Was wird vom Handwerk getan, um in der Öffentlichkeit präsent zu sein?

Unsere Handwerksbetriebe setzen eine Vielzahl von Strategien ein, um in der Öffentlichkeit präsent zu sein und das Handwerk als wichtigen Wirtschaftszweig und Arbeitgeber zu positionieren. Die Ausbildungsbetriebe sind unglaublich aktiv, um Auszubildende zu gewinnen und zu halten. Dabei geht es auch nicht darum, wie eine Bewerbung aussieht oder welchen Hintergrund man hat. In unseren Betrieben wird gelebt „bei uns zählt nicht, wo man her kommt, sondern wo man hin will.“ Dabei unterstützen wir als Handwerkskammer Potsdam die Betriebe, aber auch Eltern und junge Menschen gleichermaßen. Wir helfen bei der Erstellung der Bewerbungsunterlagen, wir matchen Ausbildungsinteressierte nach ihren Talenten und Neigungen mit unseren Ausbildungsbetrieben. Unsere Betriebe treffen Schüler und Schülerinnen bei Speeddatings, auf Messen, Tagen der offenen Türen, bieten Praktika an, stellen sich in Schulen vor, senden ihre Lehrlinge als Ausbildungsbotschafter in die Schulen, die dort von ihrem Ausbildungsalltag erzählen, bieten Patenmodelle während der Ausbildung an, unterstützen Vereine in den Regionen und kommen so mit dem Nachwuchs ins Gespräch. Gemeinsam organisieren wir (digitale) Elternabende, Azubiworkshops und vieles mehr. Nicht hoch genug zu bewerten ist das außerordentliche ehrenamtliche Engagement unserer Handwerkerinnen und Handwerker in vielen Bereichen in den Regionen: Sie unterstützen Vereine, Schulen, Veranstaltungen auf vielfältige Weise. Ohne sie wäre Aktivitäten, die den sozialen Zusammenhalt in den Regionen nicht mehr möglich. Auch unsere bundesweite Imagekampagne des Handwerk findet sich in der Region, um das positive Image des Handwerks zu stärken und die Vielfalt der Berufe und Karrieremöglichkeiten im Handwerk zu präsentieren. Diese Kampagnen betonen oft die Qualität, Tradition, Innovation und den Beitrag des Handwerks zur Wirtschaft und Gesellschaft. Und last but not least: Die Handwerkskammer ist zudem regelmäßig in der Kreishandwerkerschaft zu Gast, um beratend vor Ort für die Betriebe aktiv zu sein.

Wie hat sich die Anzahl der Betriebe in den vergangenen fünf Jahren entwickelt?


Betriebsbestand OPR 2019 = 1543 / 2020 = 1533 / 2021 = 1540 / 2022 = 1520 / 2023 = 1501.

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