Mai, 1954: Dieser Monat begann mit dem damaligen „Internationalen Kampftag der Arbeiterklasse“. Am Ende des Monats war eine Genossenschaft begründet, die die Schaffung von Wohnraum für Arbeiterfamilien in den Mittelpunkt stellte. Das steht am Anfang der Geschichte der Rathenower Wohnungsbaugenossenschaft (RWG), die im Mai 2024 ihr 70-jähriges Bestehen groß feiert – mit heutigen und früheren Mitgliedern und ihren Familien.
Eine Schneise kriegsbedingter Verwüstung zog sich von Ost nach West durch die Kernstadt. Auch in den Straßen links und rechts davon wurden viele Häuser unbewohnbar. Der Wohnungsmangel war akut nach 1945. Zur Keimzelle des Wiederaufbaus sollte ursprünglich die zum Großteil zerstörte Altstadtinsel werden. Der 1946 von Bauhaus-Architekt Otto Haesler entwickelte Plan kam aber nur im Ansatz zur Ausführung.
Es entstanden lediglich drei Haesler-Bauten. Laut Plan, der im Kreisarchiv zu Friesack lagert, sollte praktisch die gesamte Insel mit Wohnhäusern a la Haesler bebaut werden. Sein Plan war offenbar verworfen worden. Im nun sozialistischen Staat (ab Oktober 1949) setzte sich ein anderer architektonischer Zeitgeschmack durch. Bei der Umsetzung in der Optikstadt kam auch die Ende Mai 1954 gegründete Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) zum Zuge.
Bis Ende der DDR (1989) wurden im Kernstadtgebiet rund 60 AWG-Häuser mit knapp 2.350 Wohnungen gebaut, allein fast 500 auf der Altstadtinsel. Das erste Bauprojekt war aber auf neustädtischem Gebiet, in der Großen Hagenstraße 19-19a, vollendet worden. Die ersten Arbeiterfamilien zogen ein. Das war 1957. Die hiesige AWG war den Rathenower Optischen Werken (ROW) zugeordnet.
Freilich hatte es einer gewissen Anlaufzeit bedurft, um Arbeiter bzw. Werktätige als Genossenschaftsmitglieder zu gewinnen. Die ersten wurden in einem bewerbenden Bericht in der Märkischen Volksstimme als „kleine Gruppe schaffensfreudiger Menschen“ bezeichnet. Der vom damaligen AWG-Vorstand K. Müller verfasste Bericht erschien am 8. Juli 1954. Dieser liegt dem heutigen RWG-Vorstand, Jens Hubald, vor. Er bekleidet den Vorstandsposten seit Anfang 2022, ist Nachfolger von Uwe Hummel, der seit 2003 der RWG-Vorstandsvorsitzende war.
Wie Hubald über die Frühzeit darlegt, war der Eintritt in die Genossenschaft nicht gerade billig. Allerdings konnten die Genossenschaftsanteile in Höhe von insgesamt 2.500 Deutsche Mark der Deutschen Notenbank (DM), so hieß die DDR-Währung zu der Zeit, auch in Teilen erworben werden. Die reinen Baukosten förderte der Staat zu 80 Prozent über zinslose und unkündbare Kredite. Den Rest der Mittel brachten die AWG und die Mitglieder ein, die ihrerseits Eigenleistung beim Bau erbrachten. Auch Spenden bzw. Zuwendungen aus Betrieben sowie private Grundstücksüberlassungen soll es gegeben haben.
Das AWG-Projekt war nicht nur in der Großen Hagenstraße 19-19a ins Rollen gekommen. Ebenso 1957 wurden die Große Hagenstraße 5 und 7 sowie die Forststraße 7 und 8 bezugsfertig. Laut Jens Hubald wurden durchschnittlich drei Häuser pro DDR-Jahr gebaut. Nach der Wende (1990) erfolgte die Umbenennung in Rathenower Wohnungsbaugenossenschaft.
Modernisierung und Sanierung des Bestandes standen nun ganz oben auf der abzuarbeitenden RWG-Liste. Dem ausufernden Leerstand nach den wirtschaftlichen Krisenjahren der 90er und dem damit verbundenen massenhaften Fortzug von Rathenowern bis in die 2000er Jahre hinein geschuldet, wurden letztlich etwa 900 Wohnungen rückgebaut. Indessen kann es heute zu mehr als einem Viertel der RWG-Wohnungen per Fahrstuhl gehen. Zur zeitgemäßen Ausstattung gehören vielfach geräumige Balkone. 2023 war die Große Milower Straße 79- 82 (Baujahr 1962) mit Fassadensanierung und jetzt doppelt so großen Balkonen an der Reihe. Mit dem Zwillingsobjekt, Große Milower Straße 83-85, geht RWG-Geschichte in RWG-Zukunft über.
Jens Hubald hat einen Masterplan entwickelt, der das nächste Vierteljahrhundert umfasst. Wer wissen will, was die Rathenower Wohnungsbaugenossenschaft bis 2050 plant, sollte am 16. Mai 2024 die 70-Jahr-Party besuchen. Gefeiert wird am RWG-Sitz in der Baustraße. Da könnte richtig was los sein, schließlich gehören gegenwärtig rund 2.600 Leute der RWG an. Der Wohnungsbestand beläuft sich auf rund 1.500. Und laut Masterplan wird er steigen.
Die große Party von 11.00 bis 18.00 Uhr bietet gute Unterhaltung für alle Generationen und für Genossenschaftsmitglieder aller Herkunft. Zur langen kulinarischen Tafel des Nachbarschaftstreffs darf jeder etwas beitragen. Hier soll wie bei einem Picknick mit Nachbarn verkostet werden, was es früher hier so gab, was die aus Pommern, Ostpreußen oder dem Sudetenland stammende Oma kochte oder was aktuelle Flüchtlinge zu Hause auf den Tisch zaubern.
Vereinend dürfte sicher auch der zu beschreitende Info-Pfad wirken. Dieser führt in ein Zelt mit einer Auswahl an Fotos und Dokumenten, die Mitglieder nach RWG-Aufruf zur Verfügung gestellt haben. Von dort geht es zu einem Film über, der Geschichte und Zukunft verbindet. Die neusten Planungsvorhaben erschließen sich in einem Zukunftszelt mit dem Masterplan. Hier werden beispielsweise die Sanierung der Goethestraße 79-81 (fest geplant für 2025) sowie die Bebauung der Jederitzer Straße (vorgesehen ab 2027) zum Thema.
Ferner steht die Altstadtinsel im Fokus, auf der die RWG diverse Maßnahmen zur Schließung von Baulücken ergreifen will. Dadurch sollen insgesamt 200 neue Wohnungen entstehen. Die Stadt Rathenow betreibt einen eigenen Infopavillon, in dem das Energetische Quartierskonzept für die Altstadtinsel vorgestellt wird. Bei Kommunikation und Umsetzung ist die RWG der Hauptpartner.
Die 70-Jahr-Party wird ferner aufzeigen, dass zwischen Rückbauphase und jetzt auch einige Neubauprojekte auf der Altstadtinsel realisiert wurden, so in Salz- und Schleusenstraße, zuletzt (2019) in der Mühlenstraße. Die RWG selbst schuf sich in der Baustraße 3 einen neuen Genossenschaftssitz (inklusive acht Wohnungen im Objekt). Am Standort wurde zuletzt in den Empfangsbereich investiert. Ferner ist der jetzt durch automatische Schiebetüren zu erreichende Wartebereich um gemütliche Sitzelemente bereichert worden. Und wenn es künftig mal etwas länger dauern sollte, könnte dort der Film über Geschichte und Zukunft der RWG zum informativen Zeitvertreib werden.
René Wernitz