... Und dann kam der Einsatz des großen Lastwagens, auf den Udo Merz am Abend des 18. März mit seinen ersten Tourenfahrern an der geplanten Umladestelle in Hohen Neuendorf wartete. 35.000 Zeitungen hatte er geladen und war inzwischen eineinhalb Stunden verspätet. Mit seinem gelben Wartburg machte sich Udo Merz auf die Suche und fand seinen Laster schließlich auf der Leninallee in Oranienburg Höhe Krankenhaus.
An der Umladestelle konnte trotzdem nur knapp die Hälfte der Blätter verladen werden: Der zweite Transporter war schon im Vorfeld kaputtgegangen. Stattdessen musste der Sattelschlepper mit dem Hammer Kennzeichen wieder nach Oranienburg fahren und seine Fracht auf dem Gehweg vor dem Zigarrenhaus zwischenlagern. Also: Die Mitarbeiter mussten wuchten. Merz erinnerte sich 2010 so: „So standen wir mitten in der Nacht - es war jetzt kurz vor drei - mit einem riesigen Sattelschlepper und ohne Genehmigung auf dem Bürgersteig vor dem Zigarrenhaus. Wir entluden einen Lkw, dessen Ladung sich in diesem Moment schon zu einem ansehnlichen Berg vor dem Schaufenster auftürmte.“ Und dann tauchte die Volkspolizei auf.
„Niemand wusste, ob das, was wir blauäugigen Wessis dort anzettelten, zulässig war“, schreibt Thomas Grewe in seinem Rückblick nach zehn Jahren OGA. „Eine Erlaubnis vom Rat der Stadt zur Einführung von westdeutschen Presseorganen hatten wir uns für die erste Ausgabe besorgt. Im Nachhinein war dieses an der Grenze vorgezeigte Blatt eine dürftige Rechtsgrundlage für unser Tun. Niemand kam auch nur auf die Idee, uns westdeutsche Zeitungsmacher zu akkreditieren. Bei wem auch, fast alles war in Auflösung.“ Die erste und einzige frei gewählte DDR-Regierung war am Tag der OGA-Ersterscheinung gerade eine Woche im Amt. Kommunalwahlen fanden erst am 6. Mai statt.
Auftritt Volkspolizei

Udo Merz musste also durchaus schlucken, als er das Blaulicht auf dem näherkommenden Auto erkannte. „Zwei Volkspolizisten stiegen aus und fragten: „Was machen Sie hier?“ Verunsichert hielten wir ihnen ein Zeitungspaket entgegen. „Das ist eine neue Zeitung für Oranienburg. Die erscheint jetzt jede Woche.“ Und wir drückten ihnen das Paket in die Hand: „Die können Sie behalten und mit aufs Revier nehmen.“ Die Polizisten bedankten sich und fuhren weiter.“
Und trotzdem erhielt Redakteur Grewe am nächsten Tag einen Anruf: „Herr Grewe, da ist die Volkspolizei am Apparat.“ Das Thema könne nicht am Telefon besprochen werden, er möge in die Dienststelle kommen. „Kurz und gut, meine „Vorladung“ hatte den harmlosen Hintergrund, dass auch zwei Mitarbeiter der alten Sicherheitsorgane sich vorsichtig auf andere Zeiten einzustellen gedachten und von mir wissen wollten, wie die Zusammenarbeit von Polizei und Presse im Westen funktioniere.“
Auch andere Gesprächspartner taten sich laut Thomas Grewe schwer damit, zu verstehen, was die „Wessis“ wollten. „Mit Begriffen wie Anzeigenannahme, Vertrieb, Agenturgeschäft oder Geschäftsstelle konnten unsere Gesprächspartner zunächst herzlich wenig anfangen.“
Wie, Werbung?
Werbung zum Beispiel war in den Zeiten der Mangelwirtschaft so gut wie nicht vorgekommen. Der erste Anzeigenberater des Oranienburger Generalanzeigers, Ralf Leiskau, musste also einiges an Überzeugungsarbeit leisten. Mit einem Koffer voller Muster fuhr er zu potenziellen Inserenten, zeigte ihnen Beispiele für Anzeigen aus den alten Bundesländern, verkaufte schließlich an die Auto Service GmbH in Oranienburg seine erste Anzeige.
Udo Merz hatte in seinem Bereich, dem Vertrieb, ebenso zu kämpfen. „Am Anfang sind wir von Haus zu Haus gegangen und haben gefragt, ob die Leute nicht jemanden kennen, der Zeitungen austragen würde.“ In der DDR waren Zeitungen nur per Post zugestellt worden. Die Macher des Oranienburger Generalanzeigers wollten das von Anfang an übertrumpfen und ihre Lektüre schon zum Frühstück bereitstellen. Dafür mussten Merz und sein Team nicht nur Zusteller werben. „Ganz am Anfang kriegten wir dafür noch Ost- und Westgeld“, erinnert sich einer davon in der Jubiläumsausgabe nach zehn Jahren: Stücklohn in West und Kilometergeld in Ost. „Als Jugendlicher war ich ganz schön stolz darauf.“
Aber es waren auch Grundsatzfragen zu klären: Wie viele Zusteller brauchte man eigentlich? Wie groß sollte ein Revier sein? Wie viele Abonnenten würde man überhaupt gewinnen können? In welcher Zeit war welche Route zu schaffen? Also ran an die Stadtpläne! Nur dass diese oft veraltet waren, falsche Straßennamen oder Hausnummern auswiesen. Und für manche Gegenden gab es gar keine Karten mehr. Vor Ort fehlten dann Straßenlampen, -belag oder Briefkästen.
Die Nachfrage nach Abonnements beeinträchtigte das in keiner Weise. „Die ersten Abos wurden uns wie verrückt aus der Hand gerissen“, ist von Bernd Knaack überliefert, später Werbeleiter, der 1990 selbst am Stand auf der Straße Leseproben verteilte und Abos schrieb. „Die Leute wollten was Neues und standen reihenweise an.“ Als der Generalanzeiger am 2. September 1990 Tageszeitung wurde, gab es bereits 90 Zustellbezirke.
Eva Eismann
Was 1990 passierte
• 5. April 1990: Die erste frei gewählte Volkskammer der DDR tritt zusammen. Präsidentin: Sabine Bergmann-Pohl (CDU).
• 12. April 1990: Die Volkskammer wählt Lothar de Maizière (CDU) zum Ministerpräsidenten.
• 5. Mai 1990: Zwei-plus-Vier-Gespräche der Außenminister von USA, UdSSR, Frankreich, Großbritannien und der beiden deutschen Staaten in Bonn.
• 6. Mai 1990: Erste und einzige demokratische Kommunalwahl in der DDR - CDU 34,4 Prozent, SPD 21,3, PDS 14,6, FDP 6,6 Prozent.
• 31. Mai 1990: Amerikanischsowjetischer Gipfel in Washington mit dem Ergebnis: Die NATO-Mitgliedschaft ist eine Angelegenheit Deutschlands.
• 14. Juni 1990: Die in Frankfurt (Oder) untergetauchten RAF-Mitglieder Ekkehard Freiherr von Seckendorff-Gudent und Monika Helbing werden verhaftet.
• 3. Oktober 1990: Die DDR tritt der Bundesrepublik Deutschland bei. Der Tag der Deutschen Einheit wird zum gesetzlichen Feiertag in Deutschland.
• 9. November 1990: Am ersten Jahrestag der Maueröffnung vereinbaren Präsident Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl den „Generalvertrag“ über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit.
• 14. November 1990: Polens Außenminister Skubiszewski und Amtskollege Genscher unterzeichnen den deutsch-polnischen Grenzvertrag.
• 6. Dezember 1990: Brandenburgs Manfred Stolpe (SPD) kündigt die Gründung der Europa-Universität in seiner Regierungserklärung an. Ministerpräsident
• 9. Dezember 1990: Lech Wałęsa wird in Polen zum Staatspräsidenten gewählt.