Es gibt Tage, die bleiben für immer im Gedächtnis. Der 10. Januar 1990 gehört dazu, vor allem für Zeitungsmacher in Ostdeutschland. An diesem Montag traf sich das Führungsduo der frisch umbenannten SED-PDS, Gregor Gysi und Lothar Bisky, mit den Chefredakteuren und Verlagsdirektoren der 15 Bezirkszeitungen der DDR. Ziel war es, die Neuregulierung für die Medienlandschaft ohne Meinungsmonopol - zu besprechen.
Im Sitzungsraum des ehemaligen Zentralkomitees der SED in Berlin herrschte eine gespannte Atmosphäre. Gegen 11 Uhr unterbrach Sergej Lochthofen, Chefredakteur der Zeitung „Das Volk“, die Runde. Mit einem fast zwei Kilogramm schweren Motorola-Handy verließ er den Raum und kehrte später mit einer Paukenschlag-Nachricht zurück: Die Mitarbeiter in Erfurt hatten nach einer Vollversammlung beschlossen, ihre Zeitung unabhängig zu machen. Noch am selben Tag wurde die erste Ausgabe der Thüringer Allgemeine“ als unabhängige Tageszeitung produziert - ein Meilenstein der friedlichen Revolution.
Die Rolle der Presse war im Wandel. Anfang 1989 gab es in der DDR 39 Tageszeitungen. Damit gehörte die DDR zu den Ländern mit der höchsten Pro-Kopf-Dichte an Printmedien weltweit. Doch Meinungsvielfalt suchte man vergebens. Alle Inhalte wurden zentral durch die Abteilung Agitation und Propaganda des ZK der SED gesteuert und kontrolliert. Lokale Parteigliederungen überwachten die Einhaltung.
Doch die Herbstproteste 1989 forderten mehr als politische Reformen - sie wollten Presse- und Meinungsfreiheit. In den Redaktionen wurden belastete Chefredakteure ersetzt, und die Zeitungen erklärten sich aus eigenem Entschluss unabhängig.
Auch die Redaktion „,Neuer Tag“ in Frankfurt (Oder) - als „Märkische Oderzeitung“ inzwischen Mutterzeitung von„Oranienburger Generalanzeiger“ und „Ruppiner Anzeiger“ - durchlief diesen Wandel.
Während im Herbst 1989 im Süden der DDR bereits Hunderttausende gegen die SED-Diktatur auf die Straße gingen, blieb es in Ostbrandenburg vergleichsweise ruhig. Höhepunkt war schlieẞlich doch am 1. November die größte Demonstration, an der etwa 35.000 Menschen teilnahmen. Bei dieser Veranstaltung forderte der Arzt Dr. Karl-Ludwig von Klitzing Pressefreiheit. So geriet auch im Bezirk Frankfurt (Oder) die Parteizeitung „Neuer Tag“ unter Druck.
Auf einer Vollversammlung Ende Januar wählten die Redakteure ihren Chefredakteur in geheimer Wahl demokratisch. Ein Redaktionsbeirat mit Protagonisten der friedlichen Revolution wurde gebildet. Parallel dazu öffnete sich die Redaktion für das Neue Forum, das als Oppositionsbewegung regelmäßig ganze Seiten für eigene Beiträge erhielt. Diese Artikel wurden unter handwerklicher Anleitung der Journalisten erstellt - ein Novum in der DDR und eine vertrauensbildende Maßnahme, die beiden Seiten half, in der jungen Demokratie Fuß zu fassen.
Der stille Wandel in den Redaktionsräumen spiegelte fortan die leise, aber tiefgreifende Veränderung wider, die das ganze Land ergriff.
Andernorts wollten kleine Ost-Verleger, große West-Verlage und „Zeitungspioniere“ ihr Glück mit der neuen Pressefreiheit versuchen. Schon in den ersten Wochen nach dem Mauerfall wurden rund 30 Tages- und Wochenzeitungen durch Bürgerbewegungen, neue Parteien und basisdemokratische Gruppen gegründet. Im Februar 1990 existierten davon allerdings nur noch zwei. Es wurde zwar weiter gegründet, doch schon 1991 wurden mehr Einstellungen als Gründungen verzeichnet. „Ruppiner Anzeiger“ und „Oranienburger Generalanzeiger“ gehören zu den wenigen Neugründungen der Wendezeit, die bis heute am Markt sind.
Im Rückblick markiert der Umbruch in der Zeitungslandschaft nicht nur das Ende der SED-Medienkontrolle, sondern auch den Beginn einer vielfältigen Presselandschaft, die sich den Lesern verpflichtet fühlte - und nicht mehr einer Partei.
Heinz Kannenberg/ Eva Eismann