Seine Amtszeit war eine der kürzesten. Gut sechs Monate sollte Lothar de Maizière Ministerpräsident der DDR sein - der erste frei gewählte. Natürlich rissen sich nach dem 18. März 1990, dem Tag der 10. und letzten Wahl zur Volkskammer, alle Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehstationen nach Interviewterminen mit dem ersten nach demokratischen Grundsätzen gewählten Regierungschef. Alle wollten wissen, was er vorhat, wie es weitergehen würde in diesem Staat DDR.

Auch die ganz junge Märkische Oderzeitung, exakt mit dem Tag der Volkskammerwahl aus dem einstigen SED-Blatt„Neuer Tag“ hervorgegangen, fragte in Berlin einen Interviewtermin mit Lothar de Maizière an. Den bekamen wir auch - an einem Frühlingstag des Jahres 1990. Wenn ich mich richtig erinnere, sollten wir um 11 Uhr am Dienstsitz des Ministerrates in der Klosterstraße sein.
Gemeinsam mit meinem Kollegen, dem Fotografen Heinz Köhler, machten wir uns rechtzeitig auf den Weg von Frankfurt (Oder) nach Berlin. Ein solches, wie man heute sagt, Face-to-face-Interview zu bekommen, war zu jener Zeit Goldstaub. De Maizière war ja selbst überrumpelt worden von dem deutlichen Wählervotum, mit dem er nun Ministerpräsident geworden ist. Wir wollten unbedingt pünktlich bei ihm sein.
Doch der Berufsverkehr hatte damals schon seine Tücken. Die durchgehende Autobahnverbindung über Schönefeld in die Innenstadt gab es noch nicht. Alle quälten sich über das Adlergestell. Und das war schon weit im Süden der Stadt vollkommen dicht. Wir standen im Stau, eine Viertelstunde nach der anderen verging, der Interviewtermin rückte näher und näher.
Jetzt halfen nur noch unkonventionelle Methoden. Wir wichen mit dem Auto auf den ziemlich breiten Fußgängerweg aus. Das war zwar nicht legal, aber unsere einzige Chance, am Stau vorbei noch halbwegs pünktlich in die Klosterstraße in Mitte zu kommen. Es sollte dann auch klappen.
Im Haus des Ministerrates angekommen, warteten auf den Gängen schon etliche Journalisten-Kollegen auf ihren Interviewtermin mit dem Ministerpräsidenten. Eine junge Frau mit sportlich kurzer Frisur versuchte, das Chaos zu ordnen. Ein Redaktionsteam nach dem anderen wurde in einen großen Besprechungsraum gebeten. Ein Kamerateam des DDR-Fernsehens, dann waren wir an der Reihe. Die junge Frau bat uns in den Beratungsraum,
„Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen?“, fragte sie. Eine gute Idee nach der stressigen Anreise. Sie brachte den Kaffee, verschwand und kam kurz darauf mit dem Ministerpräsidenten wieder. Streng achtete sie darauf, dass der Zeitrahmen für das Interview eingehalten wird.
Die Frau, bei der an diesem Tag alle Fäden zusammenliefen, war Angela Merkel. Zu jener Zeit ahnte noch niemand, dass sie einmal für 16 Jahre als Bundeskanzlerin die Geschicke des vereinten Deutschland bestimmen würde. Die damals 35-Jährige war erst kurz zuvor in die Politik gekommen, wurde Pressesprecherin des von Rainer Eppelmann gegründeten Demokratischen Aufbruchs, später stellvertretende Regierungssprecherin bei de Maizière.
Die Arbeit mit der Presse war für die promovierte Physikerin Neuland. Um es zu beschreiten, hatte sie in ihrer Zeit beim Demokratischen Aufbruch einen wichtigen Berater aus dem Westen, wie sie in ihrer Biografie „Freiheit“ schreibt. Sein Name: Claus Detjen. Der 1936 in Würzburg geborene Verleger und Journalist sollte später in Frankfurt (Oder) eine wichtige Rolle in der Presselandschaft spielen. Er wurde Herausgeber und Chefredakteur der Märkischen Oderzeitung.
Bernd Röseler