Solcherart journalistischer Experimente gab es einige. Doch machten sie allein schon eine unabhängige Zeitung aus? Ich und mit mir nicht wenige Ost-Kollegen hatten da so ihre Zweifel. Wir wollten uns profunden Rat bei Kollegen im Westen holen, die eine wirkliche Qualitätszeitung machen - und das seit vielen Jahren. Heinz Kannenberg, seit kurzem neuer Chefredakteur des Neuen Tag, vereinbarte einen Termin in der Redaktion des Westberliner „Tagesspiegel“. Ich sollte ihn auf der Reise dorthin begleiten.
Wie zu jener Zeit üblich, wurde ein Auto mit Fahrer im Verlagsfuhrpark bestellt. Dann konnte es losgehen - in den Westen, auf die andere Seite der Mauer. Es war ein nasskalter Wintertag. Die Abenddämmerung war schon über Berlin hereingebrochen. Im Auto aus Frankfurt saẞen der Chefredakteur, der Fahrer und ich. Wir näherten uns dem legendären Kontrollpunkt Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße. Das Passieren der innerstädtischen Grenze war zwar seit einigen Tagen möglich. Doch die Kontrollen durch die DDR-Grenzsoldaten gab es noch.
In Höhe des Postens hielten wir und holten unsere Pässe heraus. Der Fahrer und ich zeigten sie vor. Der Chefredakteur kramte und stellte fest, dass er sein Personaldokument vergessen hatte. Die Zeit drängte. Wie mit Engelszungen redeten wir auf den Grenzposten ein, uns dennoch passieren zu lassen, schließlich waren wir zum Redaktionsbesuch beim „Tagesspiegel“ verabredet. Doch den DDR-Grenzoffizier beeindruckte das wenig. „Wir haben ja in den letzten Tagen hier an der Grenze schon vieles möglich gemacht. Aber ganz ohne Personaldokument passieren, das geht nun wirklich nicht“, sagt er.
Was sollten wir machen? Einfach umkehren wollten wir nicht. Dafür war uns der Termin in Westberlin zu wichtig für die weitere Arbeit in der Heimatzeitung. Wir beschlossen, uns aufzusplitten. Ich passierte die Grenze, fuhr mit dem Fahrer in die Potsdamer Straße, wo sich damals die Redaktion des „Tagesspiegels“ befand. Der Chefredakteur wartete unterdessen in einem Restaurant in der Leipziger Straße im Ostteil der Stadt. Auf der Rückfahrt sollten wir ihn dort wieder abholen und mit zurück nach Frankfurt nehmen.
Beim „Tagesspiegel“ bin ich aufgrund der Verzögerungen an der Grenze - in die heiße Phase des Blattmachens hinein geraten. Mein Gesprächspartner, ein älterer Herr, Mitglied der Chefredaktion, nahm sich dennoch Zeit für ein Gespräch. Wir sprachen über Themen, Arbeitsweisen, Redaktionsrichtlinien und merkten schnell, dass die Sozialisation in verschiedenen Systemen viel mehr Zeit für Annäherung und gegenseitiges Verständnis nötig machte.
Eine freie, unabhängige und journalistisch geachtete Zeitung zu machen, das war nicht einfach mit dem Umlegen eines Schalters im Kopf getan. Es brauchte Zeit, Mut und den Willen zu Veränderungen. Der Übergang vom Neuen Tag zur Märkischen Oderzeitung war der Anfang dieses Prozesses, der bis in die heutige Zeit reicht. Bernd Röseler
Was 1990 passierte
● 3. Oktober 1990: Die DDR tritt der Bundesrepublik Deutschland bei. Der Tag der Deutschen Einheit wird zum gesetzlichen Feiertag in Deutschland.
● 9. November 1990: Am ersten Jahrestag der Maueröffnung vereinbaren Präsident Michail Gorbatschow und Bundeskanzler Helmut Kohl den „Generalvertrag“ über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit.
● 14. November 1990: Polens Außenminister Skubiszewski und Amtskollege Genscher unterzeichnen den deutschpolnischen Grenzvertrag.
● 6. Dezember 1990: Brandenburgs Ministerpräsident Manfred Stolpe (SPD) kündigt die Gründung der Europa-Universität in seiner ersten Regierungserklärung an.
● 9. Dezember 1990: Lech Wałęsa wird in Polen zum Staatspräsidenten gewählt.