MäSo-Reporter erlebt die Qualifikation für die Champions League an der Alten Försterei.
Jetzt ist alles möglich. Ich kann Fensterputzer am Fernsehturm werden, ganz ohne Seil und doppeltem Boden. Oder als Astronaut zum Mars fliegen. Selbst Bundeskanzler wäre kein Problem.
Mit diesen freudentrunkenen, überschwänglichen Worten habe ich an dieser Stelle vor genau vier Jahren meinen Bericht über den Aufstieg des 1. FC Union Berlin in die 1. Bundesliga begonnen. Nun, ich habe bisher noch kein Fenster geputzt, schon gar nicht am Fernsehturm. Astronaut bin ich auch nicht geworden und das mit dem Bundeskanzler habe ich mir nochmal überlegt. Aber es bleibt dabei: Alles ist möglich. Auch und erst recht nach diesem 27. Mai 2023, an dem sich mein Herzensverein, dem ich seit einem halben Jahrhundert die Treue halte, für die Champions League qualifiziert hat. Und das tatsächlich auf den Tag genau vier Jahre nach diesem dramatischen Relegationsrückspiel gegen den VfB Stuttgart! CHAMPIONS LEAGUE! Was für ein Wort! Nie im Leben hätte ich gedacht, dass ich das jemals im Zusammenhang mit meinem Verein schreiben würde. Unfassbar, unglaublich, völlig „surreal“, wie selbst Trainer Urs Fischer staunend feststellte.
Und ich war bei diesem was-weiß-ich-wievielten-wunder-von-union wieder dabei! Wie damals war es auch diesmal ein Bangen und Hoffen, obwohl alles deutlich entspannter war. Kein Wunder, die Europa League hatte der 1. FC Union schon längst eingetütet, mit der Champions League sollte jetzt noch die viel zitierte Kirsche auf die europäische Sahnetorte kommen. Vor vier Jahren dagegen ging es um alles oder weniger, um erste oder zweite Bundesliga.
Die Spannung war also groß an diesem sonnigen Sonnabend, die Stimmung noch größer. Im Fernduell mit dem punktgleichen SC Freiburg, der bei Eintracht Frankfurt spielte, ging es um die Absicherung des vierten Champions League-Platzes. Und wenn ein Spiel nur 80 Minuten haben würde, dann hätte das nicht geklappt. So lange nämlich versuchte der 1. FC Union vergeblich, den Ball im Bremer Tor unterzubringen. Geduldig, mit Beharrlichkeit und vollem Einsatz. So wie immer. Zur gleichen Zeit verteidigten die Freiburger im knapp 600 Kilometer entfernten Frankfurt am Main ihren 1:0-Vorsprung aus der 45. Minute. Damit war Freiburg auf Platz vier geklettert, Union auf fünf abgerutscht. Aber „der Ball ist rund und ein Spiel dauert 90 Minuten“. Diese simple Sepp-Herberger-Weisheit erwies sicher einmal mehr als richtig. In der 81. Minute kam Rani Khedira aus gut zehn Metern zum Schuss und traf den Innenpfosten so perfekt, dass der Ball von dort ins Tor trudelte! 1:0, die Alte Försterei in Ekstase. Wieder einmal! Und in Frankfurt kassierten die Freiburger in der 83. Minute erst den Ausgleich, später sogar noch einen weiteren Treffer zur 2:1-Niederlage. Aber das war egal. Union hatte es geschafft. Aus eigener Kraft! Kurz vor knapp, wie so oft in der Saison mit den insgesamt 27540 regulären Spielminuten. Und die letzten zehn waren entscheidend für den 1. FC Union! Wahnsinn, Fischer würde sagen „surreal“.
Daran musste ich denken, als die Mannschaft sich völlig zu Recht ausgiebig feiern ließ für ihre vierte Bundesliga-Saison, die bislang erfolgreichste. 62 Punkte, so viele wie noch nie, 51 Tore, so viele wie noch nie und mit 38 Gegentoren gemeinsam mit dem neuen deutschen Meister auch noch die beste Abwehr der Liga. Dazu Pokal-Viertelfinale und zehn Spiele in der Europa-League! Meine Gedanken flogen zurück in den Oktober des vergangenen Jahres nach Malmö, ein Sieg war nach zwei Niederlagen zum Auftakt Pflicht, um weiter durch Europa reisen zu können. Der gelang, sogar in Unterzahl. Gut vier Monate später saß ich am 16. Februar in der Johann-Cruyff-Arena, im Relegationsspiel gegen das große Ajax Amsterdam ging es um den Einzug ins Achtelfinale der Europa League.
Dem dortigen 0:0 folgte eine Woche später ein fulminanter 3:1-Heimsieg. Wieder ein großes Spiel, wieder ein Union-Wunder. Ich dachte an späte Bundesliga-Tore, gegen Gladbach und Hoffenheim zum Beispiel, die nach Rückständen noch zu Siegen führten. Erkämpft und erzwungen mit unbändigem, ja, mit eisernem Willen. „Die Zeit ist nun gekommen“, dieser beliebte und in jedem Spiel zu hörende Fangesang aus dem Aufstiegsjahr hat am vergangenen Sonnabend eine weitere Strophe bekommen, denn nach Aufstieg, Conference League und Europa League ist die Zeit nun gekommen für die Champions League. Einfach nur surreal.
Andreas Kampa