Der Jahreswechsel 1989/90 war aufregend. Die Arbeit für uns Journalistinnen und Journalisten des „Neuen Tag“, dem Vorgängerblatt der „Märkischen Oderzeitung“, veränderte sich mit Riesenschritten von Tag zu Tag. Die SED hatte die Zeitung freigegeben. Bis eben noch Organ der Bezirksleitung Frankfurt (Oder) der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, sollte das Blatt plötzlich eine unabhängige Tageszeitung sein. Besonders wir damals jungen Journalisten waren begeistert.
Andererseits stand die Frage: Wie funktioniert eine unabhängige Zeitung? Woher kommen die Themen, welche inhaltlichen Schwerpunkte werden gesetzt? Bislang hatte sie die SED mit ihren vor-wiegend auf die Produktion ausgerichteten Kampagnen gesetzt. Doch nun? Einen neuen Zeitungseigner gab es nicht, neue publizistische Leitlinien sollten in ein Redaktionsstatut einfließen, das von den Zeitungsmitarbeitern auf den Weg gebracht wurde.
In der Redaktion des „,Neuen Tag“ begann eine Zeit des Suchens und Experimentierens. Dabei steuerten auch manche aus dem Westen angereiste Journalisten und Redaktionsberater ihre Ideen bei. Einige waren interessant, andere fragwürdig. Ein aus dem Westen angereister Verlagsmensch brachte beispielsweise eine Tasche voller Bücher mit - für den Fortsetzungsroman in der Zeitung. Am besten einen mit viel„Sex and Crime“. Das sei gut für die Leser-Blatt-Bindung.
Der nächste redaktionelle „Entwicklungshelfer“ organisierte im Namen der Zeitung einen großen Autotest vor dem damaligen Hotel Stadt Frankfurt, das sich an der Stelle der heutigen Lenné-Passagen befand. Er stellte dafür gleich seinen eigenen Porsche zur Verfügung. Das Vergleichsduell zwischen dem Sportwagen und einem Seat Ibiza, den sich ein Kollege als erstes Westauto zugelegt hatte, lockte tatsächlich hunderte Neuer-Tag-Leser auf das Areal zwischen Hotel, Oderturm und Brunnenplatz. Mit dem Thema Auto konnte man den Osten mobilisieren.
Solcherart journalistischer Experimente gab es einige. Doch machten sie allein schon eine unabhängige Zeitung aus? Ich und mit mir nicht wenige Ost-Kollegen hatten da so ihre Zweifel. Wir wollten uns profunden Rat bei Kollegen im Westen holen, die eine wirkliche Qualitätszeitung machen - und das seit vielen Jahren.
Heinz Kannenberg, seit kurzem neuer Chefredakteur des Neuen Tag, vereinbarte einen Termin in der Redaktion des Westberliner „Tagesspiegel“. Ich sollte ihn auf der Reise dorthin begleiten. Wie zu jener Zeit üblich, wurde ein Auto mit Fahrer im Verlagsfuhrpark bestellt. Dann konnte es losgehen - in den Westen, auf die andere Seite der Mauer. Es war ein nasskalter Wintertag. Die Abenddämmerung war schon über Berlin hereingebrochen. Im Auto aus Frankfurt saßen der Chefredakteur, der Fahrer und ich. Wir näherten uns dem legendären Kontrollpunkt Checkpoint Charlie in der Friedrichstraße. Das Passieren der innerstädtischen Grenze war zwar seit einigen Tagen möglich. Doch die Kontrollen durch die DDR-Grenzsoldaten gab es noch.
In Höhe des Postens hielten wir und holten unsere Pässe heraus. Der Fahrer und ich zeigten sie vor. Der Chefredakteur kramte und stellte fest, dass er sein Personaldokument vergessen hatte. Die Zeit drängte. Wie mit Engelszungen redeten wir auf den Grenzposten ein, uns dennoch passieren zu lassen, schließlich waren wir zum Redaktionsbesuch beim „Tagesspiegel“ verabredet. Doch den DDR-Grenzoffizier beeindruckte das wenig.„Wir haben ja in den letzten Tagen hier an der Grenze schon vieles möglich gemacht. Aber ganz ohne Personaldokument passieren, das geht nun wirklich nicht“, sagt er.
Was sollten wir machen? Einfach umkehren wollten wir nicht. Dafür war uns der Termin in Westberlin zu wichtig für die weitere Arbeit in der Heimatzeitung. Wir beschlossen, uns aufzusplitten. Ich passierte die Grenze, fuhr mit dem Fahrer in die Potsdamer Straße, wo sich damals die Redaktion des „Tagesspiegels“ befand. Der Chefredakteur wartete unterdessen in einem Restaurant in der Leipziger Straße im Ostteil der Stadt. Auf der Rückfahrt sollten wir ihn dort wieder abholen und mit zurück nach Frankfurt nehmen.
Beim „Tagesspiegel“ bin ich aufgrund der Verzögerungen an der Grenze - in die heiße Phase des Blattmachens hinein geraten. Mein Gesprächspartner, ein älterer Herr, Mitglied der Chefredaktion, nahm sich dennoch Zeit für ein Gespräch. Wir sprachen über Themen, Arbeitsweisen, Redaktionsrichtlinien und merkten schnell, dass die Sozialisation in verschiedenen Systemen viel mehr Zeit für Annäherung und gegenseitiges Verständnis nötig machte. Bernd Röseler